Die Rücksichtslosigkeit auf vier Pfoten – Warum freilaufende, unkontrollierte Hunde das Training anderer Hundehalter ruinieren
Einleitung: Der tägliche Frust auf Feldwegen, Waldpfaden und Straßen
Du kennst es vielleicht: Du arbeitest seit Wochen oder Monaten daran, dass dein Hund in Hundebegegnungen ruhig bleibt, die Leine locker lässt, Blickkontakt zu dir hält. Du hast Trainingstagebücher geführt, professionelle Hilfe gesucht, Rückschläge verarbeitet – und dann kommt er: der „Der-tut-nichts-Hund“. Unangeleint, ungebremst, voller Energie. Sein Halter? 30 Meter entfernt, mit dem Handy beschäftigt oder mit einem Lächeln: „Der will nur spielen.“
Was dann passiert, ist jedes Mal ein Desaster – für dich, deinen Hund und euer mühsam aufgebautes Vertrauen. In diesem Artikel schauen wir genauer hin. Warum ist das Verhalten dieser Hundehalter so problematisch? Warum wird es verharmlost oder sogar verteidigt? Und was können wir als verantwortungsvolle Hundehalter dagegen tun?
1. Freilauf ist kein Freifahrtschein
Die deutsche Straßenverkehrsordnung und die meisten kommunalen Satzungen sagen klar: Hunde müssen „so geführt werden, dass von ihnen keine Gefahr ausgeht“. In vielen Bundesländern gilt im Wald und auf Wegen Leinenpflicht – gerade in Brut- und Setzzeit. Doch abseits dieser Gesetze gibt es einen Grundsatz, der in der Hundeszene immer wieder mit Füßen getreten wird: Rücksichtnahme.
Ein Hund, der frei läuft, muss jederzeit zurückrufbar sein – und zwar sofort, auch bei Ablenkung. Alles andere ist nicht Freiheit, sondern Verantwortungslosigkeit.
2. Der „Der-tut-nichts“-Mythos: Warum er gefährlich ist
„Der tut nichts!“ – kaum ein Satz sorgt bei trainierenden Hundehaltern für mehr Zähneknirschen. Denn dieser Satz suggeriert:
Mein Hund ist nicht das Problem.
Dein Hund muss sich gefälligst anpassen.
Dein Training ist mir egal.
Die Realität sieht anders aus: Vielleicht ist dein Hund unsicher, wurde früher gebissen, ist reaktiv oder lernt gerade, bei Hundebegegnungen ruhig zu bleiben. Kommt dann ein fremder Hund unkontrolliert auf ihn zu, ist das wie ein Kontrollverlust – oft mit Wochen an Trainingsrückschritt zur Folge.
Selbst wenn nichts „passiert“, verknüpft dein Hund die Begegnung negativ: mit Angst, Unsicherheit oder Frustration. Manche Hunde entwickeln daraus Leinenaggression – nicht, weil sie „dominant“ sind, sondern weil sie lernen: „Ich kann nicht fliehen, und niemand schützt mich.“
3. Begegnungstraining: Sensible Arbeit, leicht zerstört
Wer mit einem unsicheren, reaktiven oder traumatisierten Hund trainiert, weiß: Begegnungstraining ist wie Seiltanz. Es geht um:
Distanz
Timing
Körpersprache
Selbstbeherrschung
Alles basiert auf Vertrauen und Berechenbarkeit. Unkontrollierte Freiläufe zerstören diese Arbeit mit einem Fingerschnippen. Ein Beispiel:
„Wir haben 4 Wochen lang geübt, dass mein Hund bei Sichtkontakt mit Artgenossen sitzen bleibt und mich anschaut. Es lief super. Dann kam ein junger Labrador um die Ecke, ohne Leine. Hat meinen angepöbelt. Seitdem bellt er wieder bei jeder Hundesichtung – und wir fangen quasi bei Null an.“
– Erfahrungsbericht aus einer Hundetrainergruppe auf Facebook
Solche Rückfälle sind nicht selten – und führen bei vielen Haltern zu Frust, Resignation oder sogar sozialer Isolation.
4. Die psychologische Seite: Scham, Wut, Ohnmacht
Viele verantwortungsvolle Hundehalter berichten von ähnlichen Gefühlen:
Wut, weil Rücksicht fehlt.
Scham, wenn der eigene Hund auffällig reagiert.
Ohnmacht, weil man keine Handhabe gegen Fremdhunde hat.
Während „easy-going“-Halter mit lockerem Ton ihre Tiere gewähren lassen, kämpfen andere täglich um Fortschritte – gegen innere Widerstände und äußere Störfaktoren. Das ist nicht fair, das ist entmutigend.
5. Wenn aus Unwissen Ignoranz wird
Natürlich gibt es auch Halter, die es nicht besser wissen. Aber viele wissen es – und ignorieren bewusst die Bedürfnisse anderer. Frei nach dem Motto: „Ist halt ein Hund.“ Dabei zeigt echte Hundeliebe sich nicht im Freilauf, sondern in Rücksichtnahme.
Tragisch wird es, wenn diese Ignoranz zur Norm wird. Wenn sensible Hundehalter sich aus Parks und Wegen zurückziehen – und die Bühne den lautesten überlassen.
6. Gibt es Auswege?
Was kann man tun?
✅ Deeskalieren: Eigene Emotionen im Griff behalten. Ruhig bleiben, Leine sichern, Training retten.
✅ Ansprechen: Ruhig, aber bestimmt: „Bitte nehmen Sie Ihren Hund an die Leine – meiner braucht Abstand.“
✅ Trainingsorte wechseln: So unfair es ist – ruhige Zeiten und wenig frequentierte Wege wählen.
✅ Mit Gleichgesinnten trainieren: Trainingsgruppen oder Hundeschulen mit Rücksichtskultur helfen enorm.
✅ Öffentlich aufklären: Blogbeiträge, soziale Medien, Infoplakate – Sichtbarkeit schaffen.
7. Fazit: Rücksicht ist kein Luxus – sie ist Pflicht
Die Freiheit deines Hundes endet dort, wo sie die Sicherheit und den Trainingsweg anderer zerstört. Wer seinen Hund liebt, schützt ihn – und auch andere. Nicht jeder Hund „will spielen“. Nicht jeder Halter „stellt sich an“. Und nicht jede Begegnung ist harmlos.
Wenn wir in einer Gesellschaft mit vielen Hunden leben, braucht es eine Kultur der Achtsamkeit. Kein Hund muss immer an die Leine – aber jeder Halter muss seinen Hund unter Kontrolle haben. Alles andere ist schlicht: rücksichtslos.
Quellen & Hintergründe:
Hundeverordnung NRW, §2 Abs. 2
Hundetrainerin Anja Fiedler (Interview, 2023): „Warum Rücksicht im Freilauf das A und O ist“
Artikel „Reaktive Hunde: Missverstandene Kommunikation“, Zeitschrift Hundepsychologie, 2021
Erfahrungsberichte aus Hundetrainingsgruppen & Foren (z. B. Dogsunity, Facebook, Retriever-forum.de)
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